Ein Blick ins Schularchiv des heutigen Allgäu-Gymnasiums
Die neuere Geschichte der Juden in Kempten begann 1869, als vier Familien aus dem Raum Babenhausen nach Kempten zogen und hier ihre Bankgeschäfte eröffneten. Unter ihnen waren die Brüder Nathan und Hermann Ullmann, deren Bruder Sigmund (geb. 1854) ab 1877 als Bankier, Vorstand der jüdischen Kultusgemeinde, Stadtrat und enger Berater von Oberbürgermeister Dr. Otto Merkt eine herausragende Stellung in der Stadt einnahm. Im August 1942 wurde der 88-Jährige mit anderen Juden gegen den Willen des Oberbürgermeisters deportiert und starb am 19. September 1942 in Theresienstadt.
Die jüdische Gemeinde in Kempten wuchs im 19. Jahrhundert rasch auf rund 70 Personen an. Die Kaufleute bauten sich rasch erfolgreiche Existenzen auf. Hinzu kamen eine Reihe von Gästen und Mitarbeitern, die teilweise nur kurze Zeit in der Stadt lebten und statistisch schwer zu erfassen waren.

Abraham Epstein
1882 besuchte mit Abraham Epstein aus Binswangen der erste jüdische Schüler die Realschule auf dem Plätzle. Der 13-jährige Kaufmannssohn war aber nur ein Schuljahr in Kempten.
Martin Ballin, Seligmann Löw und Max Wassermann
Im folgenden Jahr waren mit Martin Ballin aus München, Seligmann Löw aus Mogendorf/Rheinland und Max Wassermann aus Kempten gleich drei jüdische Schüler auf der höheren Lehranstalt. Über alle drei Familien gibt es im Stadtarchiv keine Unterlagen. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 besuchten mindestens 21 jüdische Schüler die Realschule in Kempten. Doch nur vier blieben bis zum Abitur. An ihre Schicksale soll hier erinnert werden.
Julius Kohn
Julius Kohn aus Memmingen (geb. 1880) kam mit neun Jahren nach Kempten. Ein Jahr später besuchte er mit 51 anderen Schülern den sogenannten I. Kurs der Realschule. 1897 legte er mit 13 Klassenkameraden sein Abitur ab. Nach der Ausbildung stieg er ins elterliche Schuhgeschäft an der Klostersteige ein. Zusammen mit seinem Bruder Bruno (geb. 1893) erlebte er die Schikanen der NS-Gewaltigen in Kempten: Nach der Reichspogromnacht wurden die Geschäfte geschlossen und Julius für sechs Wochen ins KZ nach Dachau verschleppt. Im März 1942 wurde er nach Piaski deportiert und gilt als verschollen.

Die Familie blieb auch nach dem Krieg in Kempten. Brunos Tochter Margot schickte ihre Kinder aufs Allgäu-Gymnasium (Abitur 1976 und 1980) und wirkte lange Zeit im Elternbeirat mit.
Emil Steiner
Ein weiteres Beispiel ist Emil Steiner (geb. 1900) aus einer wohlhabenden Lindenberger Hoteliersfamilie. Er besuchte von 1912 bis 1917 die Realschule und meldete sich im November 1917 mit vier anderen Schülern zum Heeresdienst. Nach dem Abitur absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung. Emil heiratete 1928 und ging 1930 nach Freiburg. Im NS-Staat wurde die Familie verfolgt. Emil konvertierte wie seine Mutter zum katholischen Glauben. Es nützt nichts: Am 20. Februar 1945 wurde er zusammen mit zwei weiteren Kemptenern nach Theresienstadt deportiert. Er überlebte, eröffnete nach Krieg eine Tankstelle und starb 1973.
Siegfried Walter
Ein drittes Beispiel ist Siegfried Walter (geb. 1900 in Kempten). Die Familie stammte aus Ungarn und betrieb in Kempten ein Herren- und Knabenkleidergeschäft. Siegfried besuchte von 1910 bis 1916 erfolgreich die Realschule. Nach dem Abitur begann er eine Bankausbildung in Lindenberg. 1918 wurde er noch zum Heer eingezogen und arbeitete nach Kriegsende wieder im Bankfach, wo er es bis zum Direktor in Stettin brachte. 1933 folgte die Kündigung durch Hitler: Juden durften nicht als Bankbeamte arbeiten. Er gründete eine eigene Bank, wurde von den Nazis drangsaliert und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. 1938 wurde die Genossenschaftsbank liquidiert. Die Familie zog ins Allgäu und Siegfried Walter arbeitete im Gleisbau, wo er schwer verletzt wurde. Die Familie versuchte nach England zu emigrieren, fand aber keinen Bürgen und musste 1943 in Judenhaus an der Immenstädter Straße ziehen. Am 20. Februar 1945 wurde Walter zusammen mit Emil Steiner deportiert, überlebte das KZ und kehrte nach Kempten zurück. Er gründete ein jüdisches Komitee, dem etliche der über 50 jüdischen Mitbürger angehörten. Ab 1946 arbeitete Walter beim Bayerischen Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung. Er starb kurz vor seiner Pensionierung 1965 in München.

Emil Nathansohn
Der vierte jüdische Abiturient in Kempten war Emil Nathansohn (geb. 1903) aus Nürnberg. Die Familie mit vier Kindern stammte aus Galizien und kam 1908 nach Kempten. Hier betrieben sie ein Ausstattungsgeschäft am Mühlweg und schickten den ältesten Sohn Emil 1913 auf die Realschule. Die Schülerakte vermerkte Ende Mai 1918: „Vier Schüler beim vaterländischen Hilfsdienst, darunter Emil Nathansohn.“ Der legte 1919 noch sein Abitur in Kempten ab, dann zog die Familie nach Ulm.

Auswanderer
Fritz Hauser
Als Beispiel für die Verfolgung jüdischer Schüler in Kempten kann Fritz Hauser (geb. 1920 in Kempten) gelten. Sein Vater Oskar war Teilhaber am vornehmen Modehaus Sax in der Fischerstraße. 1930 kam Fritz an die Realschule an der Salzstraße. 1933 erlebte er im elterlichen Geschäft, wie uniformierte SA-Männer die Taschen der Kunden durchsuchten und deren Personalien feststellten. Er sah, wie Braunhemden mit Transparenten vor dem geschlossenen Modehaus standen. Er war machtlos, als sein Vater abgeführt wurde.
Im Sommer 1935 verließ Fritz Hauser die Realschule ohne Abschluss. Seine Schwester Emmi erinnerte sich im Frühjahr 2008 an die Folgen: „Er bekam einen Ausbildungsplatz als Maschinist in der Firma Stoll in Esslingen; unser Vater arbeitete früher als Handelsmann für Herrn Stoll“. Die Ausbildung endete mit der Reichspogromnacht.
Nach dem 9. November 1938 wurde auch das Kaufhaus Sax in Kempten endgültig geschlossen. „Fritz wurde Chauffeur unserer Mutter und arbeitete in einem jüdischen Restaurant in Stuttgart“, weiß seine Schwester.
Die Familie wollte ausreisen und erhielt ein Visum für die USA. Fritz reiste am 17. Februar 1938 über den großen Teich, seine Schwester Emmi folgte am 18. Juli. Doch die Eltern rutschen auf der Emigrantenliste nach unten und verloren so jede Möglichkeit der Überfahrt. Sie sahen ihre Kinder nie wieder. Im März 1942 wurde das Ehepaar nach Piaski deportiert und galt seither als verschollen.
Fritz Hauser lebte zunächst bei seiner Cousine Ilse in Chicago, wo er sich als Maschinist die ersten Dollars verdiente. Er brachte es bis zum „Supervisor der Interstate Tool Company“. Hauser heiratete 1940, hat drei Kinder und starb 1974 nach einem Herzinfarkt. Seine Schwester Emmi starb im Frühjahr 2025 in Florida.
Hans Löw
Der wohl letzte jüdische Realschüler in Kempten war Hans Löw (geb. 1926 in Kempten). Der Sohn des angesehenen Viehhändlers Leopold Löw (1877–1935) kam 1937 in das Schulhaus an der Salzstraße. Warum seine Karriere bereits nach einem Jahr endete, lässt sich nicht mehr feststellen. Im März 1939 emigrierte er mit Mutter und Geschwistern nach Australien. Auf dem fünften Kontinent gründete er eine Familie und starb um 1976.
Seine Cousine Traudl Kuppe-Löw (geb. 1921) lebte lange in Stuttgart und wurde im November 1997 als Ehrengast zur Einweihung des Sigmund-Ullmann-Platzes vor dem Müßiggengelzunfthaus eingeladen. Sie erinnerte an ihre Zeit mit Emmi Hauser am Lyzeum und die antisemitischen Parolen, die durch Kempten geisterten: „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, denn geht’s noch mal so gut.“ Wenige Monate vor Kriegsausbruch verließ sie Kempten: „Es war schwer, Deutschland 1939 verlassen zu können. Wir hatten das Glück, nach England in Freiheit zu kommen.“
Jüdische Schüler ab 1945
In der Nachkriegszeit gab es mindestens drei AG-Schüler mit jüdischen Wurzeln. Neben den beiden Kohn-Nachfahren besuchte ab 1970 der Sohn eines KZ-Überlebenden das Gymnasium. Sein Vater war im April 1945 aus einem „Todesmarsch“ jüdischer Häftlinge bei Bodelsberg geflohen. Der polnische Jude blieb in Kempten, heiratete und baute sich ein Unternehmen auf. Sein Sohn studierte nach dem Abitur erfolgreich Jura.
